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Ein Interview mit der Afghanistan-Expertin Dr. Hannelore Börgel

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Afghanistan: 20 Jahre Bildung kann man nicht ausradieren

Text:  Anne Kretzschmar, Gunhild Aiyub

Meldungen aus Afghanistan sind selten und meistens negativ. Fast immer geht es um Gewalt, religiösen Fanatismus, Frauenfeindlichkeit und die Verletzung der Menschenrechte. Dr. Hannelore Börgel ist entwicklungspolitische Gutachterin und Beraterin und besucht das Land in dieser Funktion seit 2002. Sie erzählt erschreckende Geschichten, aber auch solche, die Mut machen und ein anderes Bild zeigen als das, was die Medien uns gemeinhin glauben lassen wollen. Börgel hat ihr Ohr ganz dicht bei den Menschen und erarbeitet mit viel Engagement und Empathie Gutachten mit Empfehlungen, wie man sie unterstützen kann. Im Auftrag der Kindernothilfe reiste sie 2024 nach Afghanistan, um eine Studie zu den Themen Resilienz, Gender und Konfliktanalyse durchzuführen. 

"2016 musste ich ganz schnell ein Dorf verlassen, weil plötzlich eine Schießerei losging", erzählt Dr. Hannelore Börgel. "Ich interviewte gerade einen Bauern und schaute mich nach meinen einheimischen Begleitern um. Einer rief: ‚Rein, rein ins Haus!' Aber kaum hatte ich den Hof betreten, da hieß es: ‚Raus, raus, raus, ins Auto.' Am nächsten Tag erfuhr ich dann, dass es eine Schießerei im Dorf gegeben hatte mit Toten und Verletzten." Wenn man mit einer Frau spricht, die seit Jahren durch Afghanistan reist, drängt sich als Erstes die Frage nach ihrer Sicherheit auf. Hat sie denn nie Angst gehabt? Die Antwort ist ein klares Nein! "Ich habe mich trotz einiger Vorfälle nie gefürchtet. Es ging ja dabei nie um mich, und habe meinen einheimischen Begleitern vertraut."

Und wie wird man als westliche Frau in einem Land behandelt, in dem die Regierung seit August 2021 alle Frauen am liebsten in die eigenen vier Wände verbannen würde? "Ich habe sowohl in den Jahren bis 2021 und seither Teams mit afghanischen und deutschen Männern geleitet und bin immer respektvoll behandelt worden. Auch wenn ich als Einzelgutachterin unterwegs bin. Ich denke, das hat auch mit Gastfreundschaft zu tun.
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Hannelore Börgel sitzt in einem Hauseingang und schreibt (Quelle: privat)
Dr. Hannelore Börgel bei Gesprächen in einem Dorf  (Quelle: Hannelore Börgel)
Hannelore Börgel sitzt in einem Hauseingang und schreibt (Quelle: privat)
Dr. Hannelore Börgel bei Gesprächen in einem Dorf  (Quelle: Hannelore Börgel)

Ständig neue Gesetze gegen Mädchen und Frauen

Die einheimischen Frauen sollten, wenn es nach den Taliban geht, möglichst aus der Öffentlichkeit verschwinden. "Es vergeht ja kaum ein Monat, in dem nicht neue Gesetze, vor allem gegen die Frauen, erlassen werden", kritisiert Börgel. "Eigentlich steht die ganze Regierungspolitik im Moment unter dem Motto, wie bringen wir die Frauen unter Kontrolle, wie regeln wir ihr Leben und wie schaffen wir es, dass sie zu Hause bleiben." Zuletzt wurde Frauen verboten, in der Öffentlichkeit zu sprechen. Auch von Universitäten und weiterführenden Schulen sind sie ausgeschlossen. Wie absurd dieses Verbot ist, brachte ein Vater, den sie interviewte, auf den Punkt: "Wenn meine Frau oder Tochter krank sind, dürfen sie nur zu einer Ärztin gehen. Aber wie sollen Frauen Ärztinnen werden, wenn sie nicht studieren dürfen?"

Die Arbeitslosenquote ist sehr hoch. Nach neuesten internationalen Angaben mussten je 600 000 Afghaninnen und Afghanen den Iran und Pakistan verlassen und finden keinen Job, die Opiumindustrie wurde zerschlagen, wodurch weitere 500 000 Personen arbeitslos wurden, Fabriken wurden geschlossen, Familien verarmen und hungern. Während der Zeit der Republik, wie jetzt die Zeit zwischen 2002 und 2021 genannt wird, arbeiteten viele Frauen, zum Teil führten sie ihre eigenen Geschäfte. Seit der Machtübernahme durch die Taliban dürfen sie eigentlich nur zu Hause arbeiten. In manchen Regionen öffnen sie allerdings weiterhin ihre kleinen Läden oder Schneiderwerkstätten und warten auf Kundschaft. Durch Gelegenheitsarbeit versuchen die Frauen das spärliche Einkommen der Familien zu sichern. Sie gehen putzen und waschen für reichere Familien. "Im Moment wird ein Dekret nach dem anderen gegen die Frauen erlassen. Bei meinen Interviews wurde ich immer wieder gebeten, doch etwas für die Frauen zu tun, die jetzt zu Hause sitzen. In einigen Provinzen plant man jetzt Märkte nur für Frauen zu eröffnen, wo sie ihre in Heimarbeit hergestellten Produkte verkaufen können und wo sie es nur mit Kundinnen zu tun haben. Aber sie dürfen nur rausgehen, wenn ein männliches Familienmitglied mitgeht – und sei es der siebenjährige Sohn. Wie soll dann so ein Markt funktionieren?" Ohne Frauenmärkte, die es bislang kaum gibt, benötigen die Frauen für die Heimarbeit ebenfalls männliche Verwandte, die Aufträge vom Basar holen und die in Heimarbeit hergestellten Produkte dann zum Markt bringen.
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An einer Straße verkaufen Händler Obst (Quelle: Silke Wörmann)
Obststände an der Straße (Quelle: Silke Wörmann/Kindernothilfe)
An einer Straße verkaufen Händler Obst (Quelle: Silke Wörmann)
Obststände an der Straße (Quelle: Silke Wörmann/Kindernothilfe)

Minderjährige Mädchen werden aus Geldnot verheiratet


Um an Geld zu kommen, nimmt die Früh- und Zwangsverheiratung verstärkt zu. In Afghanistan ist es üblich, dass der Bräutigam ein Brautgeld zahlt. Geld, das Familien helfen kann, Schulden zu bezahlen und die übrigen Kinder zu versorgen. Zwischen 2002 und 2021 gab es einige Nichtregierungsorganisationen (NROs), die darüber aufgeklärt haben, dass Mädchen mit zwölf Jahren noch nicht gebärfähig sind und welche körperlichen und psychischen Schäden eine Frühverheiratung bei ihnen anrichtet. "Ich habe bei meiner letzten Reise eine Frauengruppe getroffen, die vor Jahren an solch einer Veranstaltung teilgenommen hatte. Damals sollte gerade eine Minderjährige aus dem Dorf verheiratet werden, was die Mutter daraufhin sofort stoppte. Seitdem, so berichteten mir die Frauen stolz, sei nie wieder ein Kind verheiratet worden!" Sie hätten mit ihrem neuen Wissen auch ihre Männer überzeugt, von solchen Hochzeiten Abstand zu nehmen.

Leider hat unter den Taliban die Praxis der Früh- und Zwangsverheiratung wieder zugenommen. "Der Sohn einer Familie hatte sich als Arbeitsmigrant auf den Weg in ein Nachbarland aufgemacht, er wurde aber auf dem Weg dorthin entführt; seitdem wird die Familie erpresst. Als ich die Mutter traf, hatte sie aus Geldnot sogar schon überlegt, ob sie ihre minderjährige Tochter verheiraten sollte. Sie suchten bereits nach einem Ehemann. Ich habe ihr erklärt, warum sie das auf keinen Fall machen dürfte! Ich habe diesen Vorfall im Arbeitsministerium vorgetragen, in der Abteilung, die für Kinder zuständig ist. Aber wie viele andere Fälle gibt es, wo niemand da ist, der versucht, das zu verhindern?"

Die achthöchste Müttersterblichkeit der Welt


Eine Folge der Kinderheiraten ist, dass die Müttersterblichkeit in Afghanistan steigt. Bei je 1 000 Geburten sterben laut Weltbank 620 Mütter, das ist in der Statistik mit 186 Ländern Platz 8. Mädchen und Frauen stehen unter einem enormen psychischen Druck, so die Gutachterin. Wenn Männer arbeits- und hoffnungslos sind, führt das oft zu häuslicher Gewalt. Und man kann in Afghanistan beobachten, dass die extrem zugenommen hat. Neun von zehn Frauen leiden darunter, sagen die UN. "Die Frauenhäuser gibt es nicht mehr. In einer rückständigen, männlich orientierten autoritären Gesellschaft ist häusliche Gewalt immer latent vorhanden gewesen. Aber jetzt steigen die Zahlen. Und die Folge sind häufig Selbstmorde." Viele Frauen, die eine gute Bildung und Ausbildung haben, die gearbeitet haben, Abiturientinnen, die eigentlich studieren wollten und jetzt verheiratet werden sollen, nehmen sich das Leben aus Verzweiflung. Die Suizidrate ist unter den Taliban gestiegen. Offizielle Statistiken dazu sammelt die Taliban-Regierung nicht. Die Weltgesundheitsorganisation gibt an, dass weltweit zweimal mehr Männer Selbstmord begehen als Frauen – nur in Afghanistan sind es weitaus mehr weibliche als männliche Opfer.

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Drei verschleierte Frauen sitzen auf einem Teppich (Quelle: Dr. Hannelore Börgel)
Viele Frauen in Afghanistan erleben Gewalt in der Familie (Quelle: Dr. Hannelore Börgel)
Drei verschleierte Frauen sitzen auf einem Teppich (Quelle: Dr. Hannelore Börgel)
Viele Frauen in Afghanistan erleben Gewalt in der Familie (Quelle: Dr. Hannelore Börgel)

Der leise Widerstand der Bevölkerung 


Doch Hannelore Börgel kann nicht nur über schockierende Folgen der Taliban-Regierung berichten. Es gibt Hoffnungsgeschichten, Lichtblicke, die signalisieren, es ist nicht alles verloren. Der leise Widerstand mutiger Frauen und Männer überall im Land ist beeindruckend. Man versucht sich zu arrangieren und gleichzeitig Freiräume zu erkämpfen.

Hoffnung macht ihr zum Beispiel, dass es eben auch unter den Männern viele gibt, die nicht einverstanden sind mit der Politik. "Diese toxische Maskulinität und dieses Macho-Gehabe ist nicht in ihrem Sinne", berichtet die Expertin. "Ich werde in Schulen oder in Dörfern immer und immer wieder von Ehemännern, Söhnen und Brüdern angesprochen, doch bitte etwas für ihre Frauen, Töchter oder Schwestern zu tun. Und manch ein Vater oder manch ein Bruder hat mir gesagt, dass er zu Hause abends seine Tochter oder seine Schwester unterrichtet."

Die Menschen haben 20 Jahre lang gesehen, wie sie ihr Leben verbessern können, und viele sind nicht bereit, dass ihnen das jetzt wieder genommen wird. Deshalb suchen sie Auswege, wie man die neuen Gesetze umgehen kann. Diese Form von stillem Widerstand zieht sich durch die ganze Gesellschaft. In einer Frauengruppe stand eine Frau auf und sagte: "Ich muss mich jetzt als Putzfrau und mit Kochen durchschlagen. Von dem Wenigen, was ich verdiene, bezahle ich eine Englischlehrerin, damit meine Tochter Bildung bekommt und es einmal besser hat als ich!" Als Lehrerinnen fungieren etwa Afghaninnen, die in Pakistan geboren wurden, perfekt Englisch sprechen, das Land aber jetzt verlassen mussten. Zum Teil geben auch ehemalige Abiturientinnen jetzt Unterricht. Vereinzelt gibt es auch religiöse Einrichtungen, Religionsschulen, in denen Schülerinnen bis zur 12. Klasse unterrichtet werden. Geduldet wird dieser Unterricht auch von Mullahs, die der festen Überzeugung sind, dass "die Frau des Heiligen Propheten" hochgebildet war und die afghanischen Mädchen ein Recht auf Bildung haben. Mädchen treffen sich in Privathäusern und lernen dort Englisch. Falls die Väter dagegen sind, erfinden die Mütter Ausreden, warum die Töchter gerade nicht zu Hause sind. Diesen kleinen, stillen Widerstand haben die Investitionen in die Bildung in der Zeit der Republik zwischen 2002 und 2021 bewirkt.

Gemäßigte Taliban berichten Börgel, dass sie ihre Töchter von Privatlehrern unterrichten lassen oder stolz sind auf ihre Schwestern, die in Deutschland, Pakistan oder in den Golfstaaten studieren. Die anderen Taliban, die oft noch nicht einmal lesen und schreiben, sondern nur kämpfen können, bekleiden jetzt oftmals die höchsten Ämter und erlassen die Dekrete, die das Leben der Frauen täglich mehr einschränken.

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Mädchen mit Kopftuch sitzen auf dem Boden vor einer Wand, an der eine Lehrerin die Schaubilder erklärt (Quelle: Kindernothilfepartner)
Häuslicher Unterricht (Quelle: Kindernothilfepartner)
Mädchen mit Kopftuch sitzen auf dem Boden vor einer Wand, an der eine Lehrerin die Schaubilder erklärt (Quelle: Kindernothilfepartner)
Häuslicher Unterricht (Quelle: Kindernothilfepartner)

Dörfer bestimmen ihre Entwicklung selbst


Eine wichtige Entwicklung aus der Vor-Taliban-Regierung prägt Afghanistan bis heute. 2004 wurde das National Solidarity Program in Gang gesetzt, eine Initiative der Regierung, die darauf abzielte, rund 5 000 Dörfer weiterzuentwickeln. In diesen Dörfern wurden sogenannte Community Development Councils gegründet, Selbstverwaltungsorganisationen, die gewählt wurden, um über die Belange des Dorfes zu entscheiden. Im Mai 2024 haben die Taliban sie verboten, aber Börgel hat beobachtet, dass einige ehemalige Mitglieder heute in neuen Gremien mitarbeiten, in denen gemeinschaftlich Entscheidungen für das Dorf getroffen werden. Außerdem haben shuras, Versammlungen, in denen sich ausgetauscht wird, eine lange Tradition in Afghanistan.

Auch vor den Taliban gab es erzkonservative Dörfer, wo Männer und Frauen nicht zusammenarbeiten durften. Dort gab es dann einen Council für Frauen und einen für Männer. Börgel fragte die Frauen, wie sie denn miteinander kommunizieren würden. "Sie haben gelacht und gesagt: Wir gehen doch abends nach Hause, und dann erzählen wir unseren Männern, was bei uns diskutiert wurde. Eine Frau erzählte von einem Streitpunkt zwischen den beiden Gruppen: Die Frauen wollten sauberes Wasser im Dorf haben, um Diarrhöe und Kinderkrankheiten zu verhindern. Die Männer wollten Elektrizität. Am Ende setzten sich die Frauen durch! Das ist Entwicklung von unten!"

Die Menschen hoffen auf weitere Unterstützung


"Diese Regierung wird so schnell nicht verschwinden", prognostiziert die Afghanistan-Kennerin. "Wir sollten uns Gedanken machen, wie wir positive Ansätze unterstützen können." Es wird für westliche Organisationen eine Gratwanderung sein, den Menschen zu helfen, ohne auf den Radar der Taliban zu geraten, und Diplomatie und Fingerspitzengefühl sind nötig, im Spannungsfeld zwischen gemäßigten und rückständigen Taliban zu agieren. Die Situation sei schwierig, aber kein Grund, aufzugeben, so die Expertin. "Allein mit humanitärer Hilfe kommt man allerdings nicht weiter. Was die Menschen brauchen und worum sie bei meinen Besuchen immer wieder gebeten haben, sind Ausbildung und Weiterbildung. Nomaden beispielsweise, die ihre Herden verloren haben, sagten mir: "Selbst wenn wir weiterhin als Tagelöhner auf der Straße stehen müssen und pro Woche vielleicht drei- bis viermal nur einen Tageslohn von 300 Afghanis (umgerechnet 3,81 Euro) nach Hause bringen - helft unseren Söhnen! Sie müssen eine berufliche Ausbildung bekommen, damit sie ein besseres Leben haben als wir!" Als Beispiele nannten sie Ausbildung in der Elektronik und Mechatronik, um später kleine Geschäfte für Auto- und Handy-Reparaturen eröffnen zu können. Es waren auch Männer, die immer wieder dringend darum baten, "auf jeden Fall etwas für die Frauen tun."

Die Nomaden sind nicht die Einzigen, viele Menschen in Afghanistan wünschen sich Berufsbildung, mehr Perspektiven, eine Zukunft für sich und ihre Kinder, die lebenswert ist. Wichtig ist, dass die Entwicklung in den Dörfern anfängt. "Entwicklung in einem seit 40 Jahren kriegsgeschundenen Land muss unten anfangen, hier werden die Wirkungen erzielt, die langfristig nachhaltig sind." Eine solche Entwicklung braucht viel Ausdauer und Durchhaltevermögen. Und dennoch betont die Expertin immer wieder wie ein Mantra: "20 Jahre Bildung sind nicht einfach auszuradieren, die Menschen haben lesen, schreiben, rechnen und selbstständig denken gelernt, da müssen wir jetzt ansetzen."

Khalida Hafizi, die Kindernothilfe-Koordinatorin für Afghanistan, musste nach der Machtübernahme durch die Taliban nach Deutschland fliehen. Ihre Arbeit für Frauen- und Kinderrechte in ihrer Heimat brachte sie in Lebensgefahr. Für Khalida und ihre Familie begann eine Zeit voller Todesangst. Nach monatelangem Bangen und Verstecken gelang es ihr, 2022 über Pakistan nach Deutschland zu fliehen. Auch sie meint, dass es positive Ansätze gibt, auf denen NROs aufbauen können: "Im Vergleich zur ersten Machtübernahme der Taliban im Jahr 1996 hat sich einiges verändert. Die Frauen sind heute stärker, haben viel mehr Selbstbewusstsein als damals, dank der Regierungsarbeit für Frauenrechte und dank der vielen internationalen Organisationen im Land."
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Eine Mutter mit zwei Söhnen und zwei Töchtern (Quelle: Ralf Krämer/Kindernothilfe)
Khalida Hafizi, die frühere Kindernothilfe-Koordinatorin für Afghanistan, musste nach der Machtübernahme durch die Taliban mit ihrer Familie aus ihrer Heimat fliehen (Quelle: Ralf Krämer)
Eine Mutter mit zwei Söhnen und zwei Töchtern (Quelle: Ralf Krämer/Kindernothilfe)
Khalida Hafizi, die frühere Kindernothilfe-Koordinatorin für Afghanistan, musste nach der Machtübernahme durch die Taliban mit ihrer Familie aus ihrer Heimat fliehen (Quelle: Ralf Krämer)

Neue Gefahren für NROs


Auch für afghanische Organisationen ist es ein Drahtseilakt, Projekte durchzuführen, so Hannelore Börgel. Sie hatten früher natürlich auch Mitarbeiterinnen, die in den Büros arbeiteten. Heute dürfen die Frauen nur noch, wenn überhaupt, von zu Hause arbeiten. In Einzelfällen haben sich manche NROs was einfallen lassen. "In einem Büro wurde eine Art Schleuse zwischen zwei Büros eingebaut", berichtet Börgel. "Wenn die Frauen Unterlagen erstellt haben, legen sie die in die Schleuse, und die Männer nehmen sie auf der anderen Seite in Empfang." In den meisten Fällen arbeiten die Frauen allerdings von zu Hause und besuchen in männlicher Begleitung aus ihrer Familie Frauengruppen in den Dörfern und setzen so ihre Arbeit fort. Die Zahl weiblicher Mitarbeiter ist allerdings sehr zurück gegangen.

Seit der Übernahme der Taliban haben sich für einheimische wie internationale Organisationen ganz neue Risiken entwickelt: "Die Taliban haben gesehen, das Geld aus dem Ausland geht an die NROs. Jetzt gründen sie fleißig ihre eigenen NROs in der Hoffnung, ebenfalls an ausländische Gelder zu kommen. Internationale NROs müssen jetzt sehr aufpassen, dass sie nicht auf solche neuen Vereine reinfallen. Außerdem gibt es Versuche, die eigenen Leute in die bestehenden NROs einschleusen." Börgel rät den Organisationen, bei Personaleinstellungen vorsichtig zu sein. " Die meisten NROs, die noch Projekte mit Partnerorganisationen in Afghanistan unterstützen, kennen ihre Partner z.T. seit Jahrzehnten - wie auch wir bei der Kindernothilfe", erklärt Christine Idems, Manager Humanitarian Assistance bei der Kindernothilfe. "Sie überprüfen die Personallisten anhand der Sanktionslisten der UN und EU."

Wie die Kindernothilfe in Afghanistan Kinder unterstützt


Die Kindernothilfe setzt sich seit 2002 mit einheimischen Partnern für Menschen in Afghanistan ein, insbesondere für Kinder und deren Familien. Ein Bildungsprojekt ermöglicht es den Kindern, wieder am Unterricht teilnehmen zu können und eine Chance auf ein kindgerechtes Leben zu haben. Eltern werden über Kinderrechte informiert, was dazu beiträgt, dass ihre Töchter und Söhne in einer gesunden und geschützten Umgebung aufwachsen können. Im Auftrag der Kindernothilfe reiste Hannelore Börgel 2024 nach Afghanistan, um eine Studie zu den Themen Resilienz, Gender und Konfliktanalyse durchzuführen. Sie darf noch nichts zu den Ergebnissen sagen, verrät uns allerdings: "Ich muss Ihnen sagen, wenn man Resilienz sehen will, muss man nach Afghanistan gehen!"

"Wir sind es den Menschen in Afghanistan schuldig, sie zu unterstützen", so Dr. Hannelore Börgels Schlusswort. "Die afghanische Gesellschaft muss selbst einen Weg zwischen ihren Hardlinern in Kandahar mit ihrer mittelalterlichen Politik und denjenigen, die anders denken, finden. Das kann nicht von Europa aus geregelt werden. Aber: Wir hier in Deutschland sollten mithelfen, dass sich 20 Jahre Bildung gelohnt haben. Sonst wird sich die Flüchtlingszahl erhöhen. Ich habe viele junge Männer getroffen, die schon Deutsch lernen und zu uns kommen wollen."
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Die Interviewpartnerin

Eine Frau mit einem gelben Kopftuch sitzt vor einer Hauswand (Quelle: privat)
Dr. Hannelore Börgel
ist entwicklungspolitische Gutachterin und Beraterin und bereist in dieser Funktion seit vielen Jahren Afghanistan und andere Länder.

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