Sabine Heinrich: Mein Nepal-Tagebuch
Text: Sabine Heinrich Bilder: Jakob Studnar
Kindernothilfe-Botschafterin Sabine Heinrich ist seit Jahren die Stimme des Westens. Im WDR2-Morgenmagazin hilft sie Menschen dabei, gut in den Tag zu starten. Aber auch im Fernsehen weiß sie zu begeistern, zum Beispiel bei FrauTV oder dem großen Deutschland-Quiz im ZDF. Anfang des Jahres besuchte sie zum ersten Mal Kindernothilfe-Projekte, und zwar in Nepal. Davon berichtete sie im Kindernothilfe-Podcast, aus dem wir hier Auszüge wiedergeben.
1. Tag
Eine Fahrt in die Berge
Mit dem Team der Kindernothilfe in Nepal holpern wir sechs oder sieben Stunden lang durch die Berge. Keine gemütliche Autofahrt – durch das Erdbeben sind die Wege verschüttet oder es gibt gar keine mehr. Links oder rechts geht es oft Hunderte von Metern in die Tiefe. Wir kommen nur sehr langsam vorwärts. Das macht mir klar, was zu der Hilfe in den entlegenen Bergregionen noch dazugehört, nämlich logistische Schwierigkeiten.
Die Mädchen besuchen eine Schule. Ein ganz einfaches Gebäude, die Klassenzimmer haben keine Türen und keine Fenster. Wenn es zu kalt ist, fällt der Unterricht aus. Aber die Kinder lieben ihre Schule! Sie kommen gerne hierher, um zu lernen, aber auch, weil sie hier etwas zu essen bekommen. Und sie sind so stolz, uns ihre Schule zu zeigen und was sie schon gelernt haben. Wir haben ein paar Luftballons dabei, und es gibt es großes Hallo, als wir sie aufpusten!
Die Sonne hat sich durch den Smog gekämpft, es wird wärmer, aber auch staubiger. Als wir auf das Gelände der Ziegelei fahren, sehen wir in der Mitte hohe, schmale Schornsteine, aus denen schwarzer Rauch aufsteigt. Sie gehören zu den Brennöfen, in denen die Ziegel gebrannt werden. Die Familien wohnen in kleinen Hütten auf dem Gelände. Ich bin 1,63 Meter groß, die Häuschen gehen mir nur bis zur Brust. Man kann sie nur kriechend betreten. In langen schmalen Reihen häuft sich Tonerde, aus der die Ziegel hergestellt werden.
Zunächst kneten die Kinder den Ton durch. Dann streuen sie etwas Sand in eine rechteckige Holzform – wie eine Backform –, damit die Ziegel nicht klebenbleiben, und streichen dann den Ton hinein. Anschließend stürzen sie die Form. Danach trocknen die Ziegel in der Sonne. Schließlich werden sie zu Mauern gestapelt, Ziegel für Ziegel, je zweieinhalb Kilo. Das alles machen schon Kinder. Die getrockneten Ziegel werden dann mit einem klapprigen Fahrrad zum Brennofen transportiert. Für tausend Ziegel am Tag erhält eine Familie umgerechnet 6 Euro ...
Ein Mädchen, vielleicht 16 Jahre alt, in einem wunderschönen blauen Kleid mit einem roten Schal kommt neugierig auf mich zu. Sie fragt mich: „Was macht ihr hier? Wer bist du? Hast du ein Kind?“ „Ja, das ist acht Jahre alt.“ „Oh, wie alt bist du denn?" „Ich bin 47.“ Ich sehe an ihrem Gesichtsausdruck: Sie ist total erschrocken, 47 Jahre, so alt sind ihre Großeltern.
Ich habe sie gefragt, wer sie ist und ob sie zur Schule geht. Nein, sie war noch nie in der Schule. „Warst du in der Schule?“, fragt sie mich. „Ja, in Deutschland geht jedes Kind zur Schule.“ Sie blickt mich nachdenklich an. Ich kann es nicht deuten, ob sie das mit ihrem Leben vergleicht oder ob sie die Geschichte einfach total skurril findet. Und dann erzählt sie mir, dass sie ihr wunderschönes Kleid selbst mit der Hand genäht hat und dass sie Nähen liebt. Sie möchte ein Selfie mit mir und nimmt mir das Versprechen ab, anderen Kindern von ihr und den Mädchen und Jungen in der Ziegelei zu erzählen. Und dieses Versprechen halte ich gerne.
Ich bin so wütend!
Was mich beim Anblick der Kinder in der Ziegelei so wütend macht, ist: Kinderarbeit ist in Nepal verboten. Aber warum wird dann eine Firma, die Kinder beschäftigt, nicht mit Sanktionen belegt? Andererseits: Die Armut zwingt Menschen dazu, ihre Kinder arbeiten zu lassen. Sie brauchen das Geld. Und die Kinder selbst fühlen sich verantwortlich, zum Einkommen der Familie etwas beizutragen. Andererseits reicht das Geld dann gerade für den Moment. Aber nicht langfristig, der Verdienst ist einfach zu gering.
Und jetzt kommen die Kindernothilfepartner ins Spiel. Sie machen den Eltern Mut, ihre Kinder trotzdem zum Unterricht zu schicken. Der Schulbesuch ist kostenlos. Und nur mit Bildung können Kinder diesen Teufelskreis der Armut durchbrechen. Den Eltern diesen Zusammenhang zu vermitteln, ohne schulmeisterlich von oben herab mit ihnen zu sprechen, ist eine der Aufgaben der Kindernothilfepartner. Das sind immer Einheimische, Menschen aus ihrer eigenen Kultur, denen sie vertrauen können. Und das funktioniert sehr erfolgreich, z. B. in den Frauenselbsthilfegruppen, die die Partner in vielen Projektländern initiieren. Eine solche Gruppe werden wir morgen besuchen.
„Die Menschen sollen aus eigener Kraft ihre Situation verändern"
Als wir uns verabschieden, habe ich geweint, das gebe ich ehrlich zu. Ich sehe hier Menschen, die haben Hunger, die frieren. „Wir kaufen jetzt Reis und was zum Anziehen“, rufe ich den Mitarbeitenden aus dem Kindernothilfe-Büro in Nepal und in Duisburg zu. Ich bin so wütend und will hier nicht eher weg, bevor wir den Menschen helfen. Die Mitarbeitenden hören mir zu, sie verstehen mich, sie waren selbst schon oft in dieser Situation und haben die gleiche Wut gefühlt wie ich. „Ja, Sabine, das kann man machen“, sagen sie mir. „Aber das hilft ihnen nicht auf Dauer. Das macht sie abhängig von unserer Hilfe. Wir müssen dann immer wieder hierherkommen und sie unterstützen. Aber unser Hauptziel ist, sie unabhängig zu machen von uns oder anderen. Sie sollen aus eigener Kraft ihre Situation verändern. Dafür geben wir ihnen Starthilfe, vermitteln ihnen alle Kenntnisse, die sie dafür brauchen. Dann können sie stolz sein auf das, was sie selbst geschafft haben.“
2. Tag
Engagierte junge Leute im Kinderrechteklub
Heute besuchen wir den Saraswati-Kinderrechteklub, eine Art AG für Kinderrechte an einer Schule. Ja Herrschaftszeiten, wie klasse sind die denn? Die Kinder treffen sich regelmäßig und sprechen über ihre Rechte. Bevor wir ankommen, haben sie sich Regeln überlegt, wie unser Besuch ablaufen soll. Die haben sie aufgeschrieben, und wir müssen sie unterschreiben. Das sind Regeln wie: „Kein Kind wird hier ungefragt in den Arm genommen oder fotografiert. Jeder lässt jeden aussprechen.“ Als ich das lese, geht mir das Herz auf! Ein Junge erzählt, warum er in diesem Kinderrechteklub ist. Erst in dieser Gruppe hat er erfahren, dass Kinderarbeit in Nepal verboten ist! Er arbeitet seit Jahren in der Ziegelei und wusste das nicht! Er ist mit ein paar Freunden zu seiner Familie gegangen, und sie haben seine Eltern überzeugt, dass es besser ist, wenn er zur Schule geht und nicht zur Arbeit. Das ist doch klasse, oder?
Das ist ein total wichtiger Punkt: die Aufklärung über Kinderrechte und dass Kinder mitreden dürfen, dass ihre Stimme gehört wird. Das ist ein erster Schritt zu einem selbstbestimmten Leben für diese Kinder und Jugendlichen. Sie sagen: „Ich gehe zur Schule und ich möchte mehr aus meinem Leben machen. Und meine Kinder sollen später mal nicht arbeiten.“
Wir fahren weiter und besuchen das Kindernothilfeprojekt Children our pride, das gegen Frühverheiratung kämpft. Dass Kinder heiraten, ist in Nepal verboten. Trotzdem wird jedes dritte Mädchen vor dem 18. Lebensjahr verheiratet, acht Prozent sogar vor ihrem 15. Lebensjahr. Acht Prozent klingt nicht viel. Aber ich bin hier in einem Dorf, in dem sind die meisten unter 15 Jahren verheiratet!
Es gibt hier eine Dorfregel: Wenn Mädchen ihre Periode bekommen, müssen sie heiraten. Und zwar nicht jemanden, den sie toll finden, sondern jemanden, den sie gar nicht kennen. Sie folgen ihrem Mann in eine andere Familie, in ein anderes Dorf, in eine völlig fremde Umgebung.
Die Jungen, die heiraten, werden auch nicht gefragt, ob sie das wollen. Sie sind genauso traumatisiert wie die Mädchen. Kurz nach der Hochzeit werden die Mädchen schwanger. Ich habe mit Afrida gesprochen, 18 Jahre alt, sie hat bereits drei Kinder. Eine wunderschöne junge Frau, aber ganz still und mit einem leeren Blick. Ich frage sie, wie sie den Tag der Verheiratung erlebt hat? Hatte sie Angst? Wie geht es ihr heute mit drei Kindern? Und ich merke, das sind Fragen, die sie sich gar nicht stellt. Sie weiß einfach, sie hilft ihrer Familie damit, dass sie zu ihrem Mann gezogen ist, denn die hat dann ein Kind weniger, um das sie sich kümmern muss. Wenn ich mir vorstelle, ich wäre mit zwölf verheiratet worden … Oder meine Tochter würde so früh heiraten …
Die Eltern hier wissen, dass es nicht erlaubt ist. Aber es ist das Gesetz der Dorfältesten, da widersetzt du dich nicht. Diese Tradition muss irgendwann durchbrochen werden! Ich frage die jungen Frauen: „Was ist mit euren Töchtern, die ihr im Arm haltet?“ Und sie sagen: „Wir möchten nicht, dass sie als Kinder verheiratet werden. Aber wenn sich unsere Situation nicht ändert, dann bleibt uns nichts anderes übrig.“
3. Tag
Powerfrauen in der Selbsthilfegruppe
Im Danusha District werden wir in eine der Selbsthilfegruppen eingeladen, die die Kindernothilfe mit ihrem Partner angestoßen hat. Diese Frauen sind ganz anders als die im vorigen Dorf. Ich sitze mit ihnen auf dem Boden, und sie erzählen, dass sie sich seit ungefähr zwei Jahren treffen. In der Gruppe haben sie zum ersten Mal gelernt, über ihre Gefühle zu sprechen und über ihr Verhalten gegenüber anderen Frauen nachzudenken. Sie alle haben ihre Schwiegertöchter schon mal geschlagen. In der Gruppe lernen sie, dass es andere Möglichkeiten gibt, zu kommunizieren. Alle Kinder gehen zur Schule, und auch dort gibt es keine Schläge mehr.
Sie wollten gemeinsam Geld sparen, um die Summe reihum als Kredit zu vergeben. Sie haben mit 35 Cent angefangen. Dann haben sie festgestellt: Wir könnten auch 50 Cent sparen. Mit der Zeit haben sie ein kleines Kapital angespart. Und wenn eine aus der Gruppe eine Idee hat, wie sie ihre Familiensituation verbessern könnte, leiht sie sich von dem Ersparten den nötigen Betrag. Eine Frau zum Beispiel hat ein Stück Land – das ist in Nepal sehr ungewöhnlich, weil das Land normalerweise Großgrundbesitzern gehört. Sie wollte Blumenkohl anpflanzen und hat dafür einen Kredit bekommen. Inzwischen erntet sie 3 600 Blumenkohle im Jahr! Um das zu schaffen, musste sie andere Frauen anstellen, die haben also jetzt auch einen Job und verdienen Geld. Ist das nicht toll?
Als Gruppe erfolgreich gegen Frühverheiratung
Auch hier frage ich in die Runde: „Wer von euch ist mit unter 18 Jahren verheiratet worden?“ Alle Hände gehen hoch. „Und unter 15 Jahren?“ Da gehen auch noch die meisten Hände hoch. „Unter 13?“ Selbst da sind es noch ein paar.
Aber im Gegensatz zu den Frauen im anderen Dorf nehmen sie diese Tradition nicht einfach hin. Sie erzählen mir: „Wir haben neulich von der Verheiratung eines jungen Mädchens erfahren. Unsere ganze Gruppe ist zur Familie des Mädchens gegangen, zur Familie des Bräutigams und schließlich auch zum Dorfältesten. Wir haben allen erklärt, dass eine Schwangerschaft in diesem jungen Alter gefährlich ist. Durch unsere Intervention wurde diese Heirat abgeblasen!“ Ich spüre das Selbstbewusstsein dieser Frauen, die so stolz sind auf das, was sie erreicht haben. Es ist toll, wie sie miteinander umgehen und sich gegenseitig Mut machen und stärken! Man hat deutlich gesehen, es gibt hier eine Entwicklung, es tut sich etwas!
Ja, es ist noch ein weiter Weg – in dieser Gruppe waren jetzt vielleicht 30 Frauen. Aber sie stecken andere an. Sie erzählen mir, dass Frauen im Nachbardorf jetzt auch so eine Gruppe gründen wollen. Die ersten drei, vier Jahre werden sie von einem Kindernothilfepartner begleitet, hauptsächlich mit Fortbildungen. Danach wird er sich zurückziehen und in anderen Regionen solche Gruppen anstoßen. Ich bin so stolz auf diese Frauen! Und ich bin stolz auf die Kindernothilfe, die dieses Projekt unterstützt, und dass ich ein Teil davon bin.
Was ist das Fazit meiner Reise?
Ich glaube an die Projekte der Kindernothilfe. Zu sehen, was sie bewirken, z. B. bei den Selbsthilfegruppen, das hat gutgetan. Mein schönstes Erlebnis war das Treffen mit dem Mädchen in dem blauen Kleid in der Ziegelei. Ich werde sie nie vergessen. Ich denke ganz oft, wie es ihr wohl gerade geht, was sie macht, ob sie etwas Neues genäht hat. Dieses Mädchen hat mir für mein Leben etwas mitgegeben.“